MOIN Filmförderung Hamburg Schlwesig-Holstein

Mit Lars Jessen nach Brinkebüll

27.07.2022 | Kinostart "Mittagsstunde"

Ingwer Feddersen (Charly Hübner, r.) hat Brinkebüll einst den Rücken gekehrt und kommt jetzt wieder nach Hause

In Schleswig-Holstein, dem nördlichsten Bundesland der Republik, zwischen saftiger Marsch und hügeliger Geest, hat Regisseur Lars Jessen den Dörte Hansen-Roman „Mittagsstunde" verfilmt. Das darin so milieugetreu beschriebene Dorfleben der 60er und 70er Jahre ist heute so gut wie nicht mehr zu finden. Doch der Film lässt es mit Charly Hübner in der Hauptrolle ab dem 22. September im Kino noch einmal aufleben.

Charly Hübner spielt die Hauptfigur, den Kieler Professor Ingwer Feddersen, der in einer Dreierbeziehung in einer WG lebt. In einem Anflug von Midlife-Crisis nimmt er sich eine längere Auszeit, um seine alten Eltern in dem nordfriesischen Dorf Brinkebüll, die eigentlich seine Großeltern sind, zu pflegen und in ihrem Gasthof zu unterstützen. Auf der Suche nach seiner Kindheit wird sich Feddersen nicht nur seiner Wurzeln bewusst, sondern auch, dass er in seinem gegenwärtigen Leben noch einmal einen Aufbruch benötigt. Ingwer Feddersen erfährt auf schmerzliche Weise, dass das Dorf seiner Kindheit, der Laden, die Bäckerei, die Störche auf der Dorfkirche, oder die bucklige Dorfstraße mit dem Kopfsteinpflaster der Flurbereinigung in den 70er Jahren zum Opfer gefallen sind.

Stulle und Kuchen: Regisseur Lars Jessen (Mitte) bei den Dreharbeiten in Schleswig-Holstein

Diese untergegangene Dorfkultur in Schleswig-Holstein, wie sie einem der Roman „Mittagsstunde" vor Augen führt, ist Lars Jessen sehr vertraut. Der gebürtige Kieler war mit seiner Mutter in seiner Kindheit aufs Land gezogen, wo er in einer Aussteiger-Wohngemeinschaft lebte. „Ich kenne das dörfliche Leben von damals, die Feste mit der Sahnetorte um Mitternacht, den sonntäglichen Frühschoppen, das Herumhängen an der Bushaltestelle morgens, mittags und abends." Diese alltäglichen Fahrten, die häufig beschlagenen Scheiben, hinter denen das Landschaftsbild verschwimmt, sind ihm im Gedächtnis geblieben.

Die demenzkranke Ella (Hildesgard Schmahl) hat sich mal wieder rausgeschlichen. Aber Ingwer (Charly Hübner) weiß mittlerweile, dass er sie vor der alten Schule findet.

Das fiktive Dorf Brinkebüll ist in der heutigen Wirklichkeit so nicht mehr zu finden, schon gar nicht in einem Look der 60er oder 70er Jahre. Also mussten die Hauptmotive des fiktiven Dorfs in sechs verschiedenen Orten zwischen Schleswig und Husum realisiert werden. Der Gasthof befindet sich in Sollbrück, einem Ortsteil von Sollerup. Das zentrale Motiv hat Jessen gemeinsam mit der Romanautorin Dörte Hansen vorab besichtigt – und beide waren sich einig, dass es das gesuchte Gasthaus der Familie Feddersen ist. Für die Zeitreise in Ingwers Kindheit musste viel ausgestattet werden. „Aber da war alles vorhanden. Die Gaststube, der Festsaal mit dem verschrammten Parkett, die Zimmer und die Scheune für das Vieh", so Jessen. Die alte Straße mit dem Baum, wo man in die Dorfstraße einbiegt, hat Jessen in einem anderen Ort gedreht, der Dorfladen, der heute eine Kita beheimatet, befindet sich in Wöhrden im Kreis Dithmarschen. Der Regisseur kennt diese Region sehr gut von seinen früheren Filmen „Schimmelreiter" oder auch dem Dokumentarfilm „Krugsterben".

Gut was los: Die Dreharbeiten zwischen Husum und Schleswig
Und noch merh Dreharbeiten - hier mit Hauptdarstellerin Gro Swantje Kohlhof

Es war eine Herausforderung zu zeigen, wie die Landschaft vor der Flurbereinigung ausgesehen hat, mit den bewaldeten Feldgrenzen, den Knicks, und den früheren Landwegen: „Weil wir dort heute durch Maiswüsten fahren, überall Mais und Biogasanlagen und keine Kühe mehr auf den Feldern. Wir hatten das Glück, dass wir das eine oder andere doch noch finden konnten, was nach den alten Feldwegen aussieht", sagt Lars Jessen. Auch das Fahren durch diese Landschaft ist ein wiederkehrendes Motiv, denn Ingwer Feddersen pendelt gerne von der Uni in Kiel nach Hause auf die nordfriesische Geest. Westküstenbewohner nennen das "Zwischenfahren".

Von ihrem Lieblingsplatz beobachtet Marret (Gro Swantje Kohlhof) das Treiben auf der Dorfstraße

Lars Jessen, der für dieses Familiendrama auch als Produzent fungiert, hat eng mit der Romanautorin zusammen gearbeitet. Sie war stets eingebunden, weil sie sich interessiert habe, wie sich ihr Roman filmisch erzählen lässt. Aber sie habe gleichzeitig auch loslassen können, je stärker das Vertrauensverhältnis wuchs. Überhaupt sei der Prozess der Stoffentwicklung als Teamwork erfolgt, für die auch die Drehbuchautorin Catarina Junk sehr offen gewesen sei; beteiligt waren der Dramaturg Bernhard Gleim und Florida-Mitarbeiterin Louisa Luckert. Die authentische Milieuschilderung des dörflichen Lebens mit seinen Figurenkonstellationen im Roman ist für den Film stark auf die innere Familie konzentriert worden. Neben Charly Hübner sind Peter Franke und Hildegard Schmahl als die alten Feddersens zu sehen; in den Rollen der jüngeren agieren unter anderem Rainer Bock, Gabriela Maria Schmeide und Gro Swantje Kohlhof.

Kennen sich schon seit ihrer Kindheit in Brinkebüll: Heiko (Jan Georg Schütte, li) und Ingwer (Charly Hübner, re.)

Weitgehend folgt der Film der offenen Struktur des Romans. Die unterschiedlichen Zeiten – 60er und 70er Jahre und heute – wurden in einzelnen Blöcken gedreht. „Eigentlich haben wir drei Filme gedreht, das Aufwachsen von Ingwer im Dorf, die Gegenwart im Gasthof mit seinen Großeltern und die WG in Kiel, die andere Welt von Ingwer Feddersen", sagt Jessen. Geschnitten wurde bei Optical Art in Hamburg, wo auch ein Großteil der Postproduktion erfolgte, gemeinsam mit dem Cutter Sebastian Thümler.

Ein unbeschwerter Moment in Ingwers (Lennard Conrad) Jugend: Oben auf dem Strohwagen liegen und in den Himmel träumen.

Jessen, ein Vorreiter in Sachen grünes Drehen, hat zusammen mit Green Consulterin Annika Kruse auch bei dieser Produktion den Fokus auf einen möglichst geringen CO2-Fußabdruck gerichtet. Vor allem beim Catering wurde auf regionale Produkte Wert gelegt, Fleisch reduziert und bei jeder Mahlzeit die CO2-Werte aufgezeigt. Dabei wurde deutlich, dass über den Fleischkonsum hinaus auch Milchprodukte problematisch sein können. Bei der Energieversorgung schneiden diese Dreharbeiten ebenfalls gut ab, weil die wichtigsten Motive schon langfristig eingeplant waren und dadurch weitgehend auf umweltschädliche Dieselgeneratoren verzichtet werden konnte.

Nicht so gut sieht die Bilanz für die Fahrten aus. Aufgrund der Tatsache, dass es viele Motive gab und in der Urlaubszeit im Hochsommer das Team und der Cast auf unterschiedliche Hotels und Unterkünfte verteilt werden mussten, sind verhältnismäßig viele Fahrten angefallen. „Dabei sind wir wieder an die gesellschaftliche Glasdecke gestoßen", bilanziert Jessen, weil es keine E-Autos und CO2 arme LKWs zu mieten gibt, wie sie von Filmproduktionen benötigt werden. Initiativen und Förderungen haben das grüne Drehen weiter voran gebracht. Was nun noch fehle, sei ein Ordnungsrahmen seitens der Politik und auch von den Auftraggebern wie den Sendern, um hier etwa im Bereich der Mobilität endlich Alternativen zur Verfügung zu haben, die umweltfreundlicher sind.

v.l.: Lars Jessen, Charly Hübner und Helge Albers von der MOIN Filmförderung

Der Majestic Verleih wird „Mittagsstunde" am 22. September 2022 ins Kino bringen. Dann wird der Film auch in einer Plattdeutsch-Fassung zu sehen sein. „Nicht synchronisiert. Nein, wir haben auch noch eine eigene Sprachfassung gedreht," sagt Jessen.

Credits: Majestic/Christine Schroeder
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